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Geruch der Diktatur
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Der Geruch von Zukunft

Julia Schoch

Geruch der Diktatur, geruch der Zukunft
Die Fortschritte des sozialistischen Bauwesens sind beim Aufbau des Stadtzentrums von Chemnitz (ehem. Karl-Marx-Stadt) besonders deutlich geworden. Bau der SED Bezirksleitung, 1963 © Bundesarchiv, Bild B0902-0003-001 / Fotograf: Friedrich Gahlbeck (CC BY-SA 3.0 DE)

Ich wurde in eine Welt der ausschließlichen Zukunft, in ein Universum ohne Hinterlassenschaft oder Erbe hineingeboren.

Die Häuser, in denen ich bis zum Erwachsenenalter gewohnt habe, trugen nie Spuren der Geschichte. Im Gegenteil. Immer waren die Wohnblöcke gerade erst errichtet worden und so frisch, dass beim Einzug noch der Beton zu riechen war.

Zu jener Zeit standen mir ausschließlich die sogenannten kommenden Zeiten vor Augen. Die Gesellschaft im östlichen Teil Deutschlands empfand sich damals bekanntlich als Einbahnstraße, und zwar im positiven Sinne. Es ging nur vorwärts, in eine glorreiche und wünschenswerte Epoche hinein, die Kommunismus hieß. Man hatte sich abgetrennt von der Vergangenheit.

Die Stadt, in der ich aufwuchs, passte zu diesem Vorhaben. Sie war ein künstlicher Ort. Zu Zeiten des Sozialismus machte man aus dem einstigen Fischerdörfchen eine kleine moderne Stadt. Um genau zu sein, handelte es sich um eine neu angelegte Garnisonstadt, einen Militärstützpunkt.

Von hier aus sollte der Frieden verteidigt werden. In den Wäldern der Gegend ließ sich eine halbe Armee mitsamt den Geschützen verstecken.

Für die Militärs und ihre Familien entstanden Häuserblöcke, ein Kino, ein Kulturhaus, Kindergärten und eine Schule. Nach und nach wurde das alte Dorf von neuen Straßen und neuen Gebäuden durchzogen.

Das Einzige, was in der kleinen Stadt noch an die frühere Zeit erinnerte, war die Kirche. Allerdings war sie eine Art verbotener Ort. Zwar standen keine Warnschilder davor, aber sie wurde trotzdem gemieden. Sie war ein Haus der ewig Gestrigen, wie es hieß, ein unnützes Relikt.

So wurde die Kirche allmählich vergessen; sie stand da, mitten im Zentrum, verborgen von ein paar Tannen, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, sie zu betreten. Auch ich hielt mich fern. Weil es verlangt wurde, aber auch, weil es selbstverständlich war, nicht hineinzugehen. Wer doch hineinging, wurde registriert. Ich weiß nicht, ob auch bestraft, zumindest aber belächelt – für seine Naivität, seine Dreistigkeit, seine überkommenen Ansichten.

Inzwischen hat sich die kleine Stadt, in der ich aufgewachsen bin, sehr verändert. Nach der Revolution 1989 wurde sie als militärischer Stützpunkt unbrauchbar. Die meisten Bewohner zogen fort. Der Ort leerte sich und schrumpfte wieder auf seine frühere Dorfgröße zurück.

Viele Gebäude wurden aufgegeben oder ganz abgerissen.

Alle, bis auf eins: die Kirche. Sie steht noch immer dort.

Es scheint, nicht ich habe mich in den letzten dreißig Jahren bewegt, sondern die Welt um mich herum.

Die Kirche erinnert mich daran.

Als Kind war Gott etwas sehr Unwirkliches für mich, ungefähr so wie eine Märchenfigur. Im Hinblick auf die Lebensdauer der Gebäude in dem Ort meiner Kindheit scheint es, er sei plötzlich mit ungeheurer Geschwindigkeit an die Gegenwart herangerast, als wolle er den verlorenen Abstand mit doppelter Geschwindigkeit wettmachen. Gott hatte mich, so kam es mir nach der Revolution eine Zeitlang vor, auf unverschämte Weise eingeholt.

Julia Schoch, geboren 1974 in Bad Saarow, studierte Literatur und lebt heute als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Sie veröffentlichte u.a. den Erzählungsband „Der Körper des Salamanders“ (2001) sowie die Romane „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ (2009) und „Schöne Seelen und Komplizen“ (2018). Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und den André-Gide-Preis. Im Oktober 2020 hatte ihr Theaterstück „Die Jury tagt“ am Hans Otto Theater in Potsdam Premiere.

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