Fahnenappell
Wenke Seemann
Es ist nicht leicht auseinanderzuhalten, was wirklich eine Erinnerung ist, was Wissen oder Annahme, Überschreibung oder Interpretation. Zwischen der Aufnahme dieses Fotos und dem Schreiben dieses Textes liegen sechsunddreißig Jahre. Obwohl ich selbst nie einen Fahnenappell aus einer solchen Perspektive gesehen habe, ist mir die Szene vertraut. Ich weiß, dass ich in den vier Jahren, die auf diese Aufnahme folgten, auf eben jenem Schulhof in der gleichen Formation gestanden habe, erst mit blauem, dann mit rotem Halstuch. Ich bin mir sicher, dass ich ebenfalls nach vorne gerufen und ausgezeichnet worden bin. Ich weiß, dass ich nie in der Fahnenträgerabordnung oder im Schulchor war. All die damals gelernten Arbeiterkampflieder kann ich bis heute auswendig und ich bemühe mich immer noch, den Reflex zu unterdrücken, auf ein im Spaß ausgerufenes „Seid bereit!“ mit dem Pioniergruß, der ausgestreckten rechten Hand über dem Kopf, den Daumen zum Scheitel, und „Immer breit!“ zu antworten. Aber ich sehe mich weder in der Reihe stehen noch eine Urkunde entgegennehmen, ich habe eigentlich überhaupt kein konkretes Erinnerungsbild von mir bei einem Fahnenappell. Anders als Christian, der sich beim Anblick desselben Fotos sofort daran erinnert, wie er vor der versammelten Schule wortreich getadelt wurde. Oder Julia, die sich immer gewünscht hat, dazuzugehören, aber stets deutlich abseits der Formation stehen musste, weil sie Mitglied der Kirche und nicht der Pionierorganisation war. Bei ihnen hat das untergegangene System Narben hinterlassen, die in ihren Erinnerungen so präsent sind wie bei mir die Moorsoldaten und der kleine Trompeter.
Wenke Seemann ist 1978 in Rostock geboren und aufgewachsen. Sie lebt und arbeitet als Fotografin und Sozialwissenschaftlerin in Berlin. Als Performerin ist sie an zwei Produktionen des Performance-Kollektivs She She Pop beteiligt. In ihrer aktuellen Arbeit „Archivdialoge“ spürt sie unter anderem anhand des Fotoarchivs ihres Vaters den alltäglichen und utopischen Momenten in der Realität ostdeutscher Plattenbauviertel nach.
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