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Geruch der Diktatur
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Der Traum ist abgelaufen

Muhammad Dibo

Illustration mit Huhn für Geruch der Diktatur © Arinda Crăciun
© Arinda Crăciun

Plötzlich finde ich mich in ihren Händen wieder, vier Männer halten mich von allen Seiten fest. Sie fesseln meine Hände hinter meinem Rücken, dann stülpen sie mir einen Sack über den Kopf. Straff binden sie ihn um meinen Hals, so dass ich nicht mehr als Dunkelheit sehe. Ihre hämischen, fluchenden Stimmen prasseln auf mein Ohr, zusammen mit dem Geräusch eines Stocks in ihren Pranken, mit dem sie auf meinen Körper eindreschen, ihn zu zerfleischen suchen – ein wahres Festmahl für sie. Ich versuche ihre Stimmen im Gedächtnis abzuspeichern, so wie es mich die Erfahrung meiner ersten Festnahme gelehrt hat. Jedes wichtige Detail muss ich aufnehmen, um zu wissen, wer diese Leute sind und wohin sie mich bringen werden … Meine Bemühungen sind umsonst, denn der Schmerz ihrer Schläge, denen ich zu entkommen versuche, verhindert, dass ich ihre Stimmen genau ausmachen kann, sie verlieren sich in meiner Erinnerung.

Dann stehe ich mit verbundenen Augen vor dem Inspektor. Einer der Männer sagt zu ihm: Wir haben den Spitzel festgenommen. Da ist er!

Ich höre, wie sich Schritte nähern, eine schwere Hand klatscht unvermittelt auf meine Wange, dem Geräusch folgt eine heisere, entsetzliche Stimme: Warum bist du zurück? Was hat dich ins Land gebracht? Was willst du hier? Für wen spionierst du? Bei Gott, wir werden dich in die Fotze deiner Mutter zurückschicken, du Schwein. Packt ihn …

Die drei Männer ergreifen mich, und als sie beginnen, die Fesseln zu lösen, entspannen sich meine Hände und ein bisschen Erleichterung fließt in meinen Körper und meine Seele, das Ende der Folterodyssee ist nah. Aber falsch gedacht, noch bevor sich ein Lächeln auf meinem Gesicht abzeichnen kann, reißen sie meine Hände nach oben, fesseln sie und binden ein Seil daran, das sie schließlich über einen Haken an der Decke der Folterkammer führen. Meine zusammengebundenen Hände werden so weit nach oben gezogen, dass meine Zehenspitzen den Boden gerade so nicht mehr berühren. Das Seltsame ist, dass ich den Schmerz nicht fühle, sondern mich stattdessen dabei ertappe, wie ich die Fragen des Inspektors zu beantworten versuche: Warum war ich wirklich zurückgekehrt? Bin ich überhaupt zurückgekehrt? Wann ist das passiert und wie?

Die Antworten in meinem Kopf bleiben aus.

Dann finde ich mich unvermittelt in derselben Zelle wieder, in die man mich vor zehn Jahren gesperrt hatte. Ich bin überrascht, „Ritter Kemal“ dort anzutreffen, und spreche ihn an: Bist du noch hier? Bist du noch nicht raus? Doch bevor er mir antworten kann, verschwindet er. Dann saust ungebremst ein Beil auf meinen Kopf nieder und die Stimme des Henkers droht: Du sprichst mit dir selbst! Weißt du nicht, dass Reden grundsätzlich verboten ist?

Mit dem zweiten Schlag fließt alles Blut aus meinem Körper und ich fühle den Tod nahen. Ich zapple in meinem Blut herum wie ein Huhn, das gerade geschlachtet wurde. Ich versuche mich an irgendetwas festzuhalten, vor dem Tod zu fliehen, doch ohne Erfolg …

Eine Sekunde bevor ich sterbe (so erscheint es mir) öffne ich meine Augen und löse mich aus dem Alptraum, ich keuche. Mein Körper ist schweißnass und mein Mund trocken, mein Herz klopft im Tempo einer von einer Hyäne verfolgten Gazelle.

Mein Atem beruhigt sich und die Anspannung verschwindet erst, als mein Blick durch das Fenster meines Hauses in Berlin auf den Baum fällt, zu dem ich jedes Mal im Moment des Erwachens „Guten Morgen, Nachbar Baum“ sage. In diesem Augenblick beginne ich den vorsichtigen Abstieg von den Höhen des Alptraums hin zum Boden der Realität, ohne dass mich der Zweifel darüber, wo ich mich gerade befinde, schon ganz verlassen hat. Ich blinzle mit den Augen, bewege meine Hände, hebe meine Beine, um sicherzugehen, dass meine Gliedmaßen heil sind. Dann versuche ich meinen trockenen Mund mit Speichel zu befeuchten und schaue auf meine seelenruhig neben mir schlafende Partnerin. Ich erinnere mich an meine Eltern in Syrien und von weit weg erreicht mich die Stimme meiner Mutter, die mich beruhigt, wie in der Kindheit, als sie mir sagte: „Wenn du im Traum Blut siehst, hab keine Angst davor, denn das bedeutet, dass der Traum abgelaufen ist und sich nicht erfüllen wird.“ Ich glaube nicht an Übersinnliches, nicht daran, dass Träume sich bewahrheiten können. Früher habe ich meine Mutter deshalb belächelt. Dieses Mal jedoch, und vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, wünsche ich, dass meine Mutter Recht hat und dieser Traum verfallen ist und niemals zurückkehrt.

Muhammad Dibo, geboren 1977, ist ein syrischer Schriftsteller, Dichter und Journalist. Er ist Chefredakteur der Internetplattform SyriaUntold und Redakteur bei der Zeitung Al-Araby Al-Jadeed. 2008 bekam er den Poesiepreis der arabischen Kulturhauptstadt Damaskus und im selben Jahr Publikationsverbot in Syrien. Seit Beginn der Revolution im März 2011 nahm er aktiv an dem Aufstand gegen das Regime Baschar al-Assads teil. Dabei wurde er festgenommen und in der Haft gefoltert. Nach seiner Freilassung floh er aus dem Land und befindet sich nun im Berliner Exil. Auf Italienisch ist 2015 sein Buch „E se fossi morto?“ („Und wenn ich gestorben wäre?“ im Verlag Il Sirente erschienen, für das er 2016 den italienischen Verlagspreis erhielt.

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