Traum vom 12. Juli 1985, Ostberlin
Annett Gröschner
Die Universität hatte beschlossen, um die Studenten in Schach zu halten, einmal im Jahr eine Studentin oder einen Studenten aufzuhängen. Das Opfer sollte ausgelost werden. Wir standen alle vor dem Losbehälter. Jeder durfte einmal ziehen. Viele hatten sich für den Anlaß schön gemacht, besonders Kirsten Kaiser. Auf sie fiel das Los. Ich sehe noch ihr Gesicht, wie sie das Los herauszog, aufrollte und plötzlich alles an ihr erstarrte. Sie mußte auf eine Bühne und stand dort fassungslos, ohne einen Ton zu sagen. Ich dachte, sie müßte doch schreien, heulen, bitten, daß das alles nicht wahr sei. Aber sie stand nur da und gab dem Henker das Los, blinzelte nervös mit den Augen, wie sie es immer im Seminar getan hatte, und ließ sich den Strick umhängen. Die Menge schrie und grölte.
Annett Gröschner, geboren 1964 in Magdeburg/DDR, lebt seit 1983 in Berlin. Sie ist Schriftstellerin, Dozentin und Journalistin und Mitinitiatorin von Geruch der Diktatur.