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Diktatur – Von der Place de la Bastille über Berlin bis nach Kabul

Widad Nabi

© Widad Nabi
Place de la Bastille, Paris © Widad Nabi

 

Im Zug von Paris nach Berlin, 18. August 2021

Liebe Annett,

gestern Mittag saß ich friedlich im Philosophen-Café an der Place de la Bastille in Paris und sinnierte mit triumphierendem Blick über diesen Platz, dieses Wahrzeichen der französischen Revolution und des Sieges über die alte despotische Grausamkeit. Genau dort wurde das Fundament für Aufklärung und Demokratie in der Geschichte Europas gelegt.

Wenige Stunden später, auf dem Rückweg nach Berlin, nahm ich mein Handy, um zu sehen, was in der Welt vor sich ging. Mich traf ein Schock, als ich die Bilder der Afghaninnen und Afghanen sah, die vor dem Einfall der radikalen Taliban in Kabul zu fliehen versuchten. Der Schrecken auf den Bildern war derselbe, den ich erlebt hatte, als ich mich aus meiner Heimat zu retten versuchte. Und es ist derselbe Schrecken, den so viele Menschen zu ganz verschiedenen Zeiten in Frankreich und Deutschland erlebt hatten, als ihre Länder vom Despotismus regiert wurden. Als würden die Diktatoren bloß ihre Kleidung wechseln, einmal trugen sie die Kleider von Königen, einmal von Soldaten und einmal von islamistischen Extremisten. Doch standhaft bewahren diese Regime ihren Kern, den alten Geruch der Angst, den ich kennenlernte, als ich vor der Diktatur des Assad-Regimes floh, den Du in der DDR-Diktatur kennenlerntest. Jetzt jedoch verfolgt er tausende Afghanen beim Versuch, sich an ein amerikanisches Flugzeug zu klammern, um vor einem despotischen, grausamen und barbarischen Regime zu flüchten, das über sie kam, als die Amerikaner sich dummerweise dazu entschieden, sich aus diesem armen Land zurückzuziehen und es als leichte Beute für die radikalen Taliban zurückzulassen.

Ich fühlte Wut, Scham, Trauer. Der Kontrast zwischen dem Anblick der Place de la Bastille oder mancher Lieblingsplätze in Berlin und den Bildern von Kabul und den Afghanen ließ mich nicht los. Wie hatte die moderne Welt, wie hatten Europa und die USA dieses Land jenen Barbaren überlassen können?

Was ist die Demokratie in der Geschichte der Völker? Eine Lüge. Nur eine Illusion, die wir zu bestätigen versuchen. Denn die westliche Demokratie steht nur bis zu den Grenzen ihrer eigenen Interessen. Wo sind die Grundsätze der französischen Revolution, der Aufklärung und der europäischen Demokratie? Warum ziehen sich alle aus diesem Land zurück und lassen es im Angesicht des Sturms allein? …

Ich habe das Gefühl, dass die Schatten der Diktatur nun die ganze Welt belagern, von meinem Zuhause in Berlin bis nach Kabul, wo gestern Millionen afghanische Frauen und Mädchen quasi zum Tode verurteilt wurden – noch leben sie, doch unter den Schatten der neuen Diktatur, die mit Hilfe der USA und der europäischen Staaten in ihr Leben gerufen wurde.

Auch Jahre später noch werden wir gemeinsam dem Geruch der Diktatur nach Kabul und in andere Städte folgen, solange die moderne Welt nicht aus den Erfahrungen von gestern gelernt hat.

Widad Nabi

 

 

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