Menu
Suche
Geruch der Diktatur
ist ein Projekt von
WIR MACHEN DAS
Texte > Die Farbpalette der Diktatur

Die Farbpalette der Diktatur

Dima Al-Bitar Kalaji

@ Sulafa Hijazi
@ Sulafa Hijazi, Doll, digitaler Print, 40 x 40 cm (2013)

Geruch der Diktatur, so heißt das Projekt, an dem ich in diesem Jahr mit der deutschen Schriftstellerin Annett Gröschner gearbeitet habe. Den Mittelpunkt bilden die Erfahrungen von Menschen, die einer Diktatur den Rücken gekehrt haben. Doch die Diktatur will sie nicht loslassen. All das, wovor sie sich gerettet glaubten, kommt immer wieder hoch. Annett und mir geht es nicht anders: Obwohl wir in zwei verschiedenen Diktaturen gelebt haben, sie in der DDR und ich in Syrien, und unterschiedlichen Generationen angehören, reagieren wir doch ähnlich auf das, was mit unseren Erinnerungen an Diktatur zusammenhängt.

Als sich das Projektteam traf, um die Farben für den Internetauftritt auszuwählen, schlug die Web-Designerin mehrere Farbschemata vor. Es erinnerte mich daran, wie wir damals in Damaskus aufs Dach kletterten und die Hausantennen manipulierten, um ausländische Sender zu empfangen. Trotz des Rauschens im miserablen Fernsehbildschirm wirkten die Farben der anderen kräftiger als unsere. Und genauso ging es mir mit den vorgeschlagenen Farbtönen für die Internetseite: Sie waren zu kräftig.

In meiner Kindheit hatten alle Schüler*innen die gleiche Box mit Buntstiften aus der einzigen Fabrik, die sie herstellte, dem staatlichen Generalbetrieb für Pressholz, Blei- und Buntstifte. Die Box aus Karton enthielt die zwölf Grundfarben, wie jedes Malset für Kinder, doch meist zerbrach die Spitze des Stifts direkt beim Aufsetzen auf das Papier. Eben diese Farben fanden sich auch in den Schulbüchern, auf den Flugblättern der Partei, auf den Straßenschildern und in den Reklamen der öffentlichen Fernsehsender. Es ist diese Farbpalette der Diktatur, auf die Annett und ich uns erneut einigten, trotz des Generationsunterschieds, der Distanz und der Länder zwischen uns. Und ohne, dass es einer Erklärung bedurfte. Aber für die anderen mussten wir die Farben genau definieren und abgrenzen. Eher blass? Oder hart? Mehr in Richtung grau?

Die Diktatur überzieht die Farben mit einer feinen Schicht Trockenheit, so wie die Depression eine transparente Folie der Traurigkeit über das Leben derer legt, die unter ihr leiden und durch diese Folie hindurch leben müssen. Diktaturen verfügen über eine eigene Farbpalette. Rot ist rot und blau ist blau, aber ich sehe die Farben nur trübe, wie verstaubt. Man könnte meinen, die Bilder sind schlecht gedruckt oder die Papierqualität ist mies. Doch ich glaube, dass Diktaturen den Farben das Leben entziehen, so wie die Depression dem Leben das Leben raubt.

Dies gilt auch für die Schule, wo wir jeden Morgen auf dem Schulhof antreten mussten. Um die Reihen zu formieren, streckten wir den linken Arm aus, bis unsere kleinen Fingerspitzen die Schulter des Kindes vor uns berührten. Dann gingen die Lehrer*innen und Militärausbilder*innen umher und stellten sicher, dass wir geordnet standen und die Treue zum Präsidenten und dem Sozialismus laut genug beteuerten. Die Mutigsten von uns bewegten nur ihre Lippen, ohne jeden Laut. Ein erster Versuch der Rebellion. Wer dabei erwischt wurde, wie er sich dem morgendlichen Fahnenappell entzog, indem er die Parolen nicht laut genug wiederholte oder sich nicht an den militärischen Ablauf hielt, wurde aus der Reihe gezogen und vor allen anderen bestraft und gedemütigt.

Aaachtung! Der linke Arm schießt nach vorn, um einen Kreis von einer Armlänge Radius um uns herum zu markieren, der uns von den anderen trennt. Ich erlebte also das erste Social Distancing meines Lebens schon in der Schulzeit. Und damit begann jeder meiner Tage, lange vor der Einführung des 1,5-Meter-Abstandes, den wir heute wegen der Pandemie einhalten müssen.

Rührt euch! Die Arme fallen schnell und gelangweilt, aber der trennende Abstand bleibt. Wir wurden älter und älter, unsere kleinen Arme wuchsen in die Länge und der Radius wurde größer. Mit dem Ende der Schulzeit und nach dem Studium würden wir uns nicht mehr jeden Morgen in Reihen anordnen und Parolen wiederholen. Doch dieser Abstand würde unsere Beziehung zum anderen für immer bestimmen. Denn auch der andere ist Mittelpunkt eines Kreises seiner eigenen individuellen Erlösung, wobei Zweifel und Misstrauen den Kreisumfang ausfüllen. Dieser Mittelpunkt ist unser zertrümmertes Selbst als Individuum und unsere frenetische Sucht nach Bestätigung durch andere.

Das Gesicht eines farblosen Gottes

Die Individuen in den Diktaturen bringen es nicht zuwege, zusammenzuarbeiten. Sie meistern alles, was individuell ist, und scheitern in allem, was kollektiv ist: beim Sport, im Studium, auf der Arbeit, in der Kultur, in politischer und in gemeinnütziger Arbeit.

Nach der syrischen Revolution im Jahr 2011 gelang es den Demonstrant*innen zunächst, in kleinen Gruppen zusammen gegen das Assad-Regime vorzugehen. Jedoch schafften diese Gruppierungen nicht den Übergang von Hoffnung auf Veränderung machenden Versammlungen zu organisierten, aktiven Gruppen mit weitreichendem Einfluss – aufgrund des Terrors und der Repression durch das Regime, der Infiltration der Gruppierungen durch die Geheimdienste, des mangelnden Vertrauens und der Angst, und weil man führende Aktivist*innen auszuschalten versuchte. Vor allem aber lag es an der fehlenden Erfahrung im Bereich der gemeinnützigen und politischen Organisationsarbeit. Das hat die Syrer*innen bis ins Exil, in die Länder ihres Zwangsasyls begleitet, auch lange nachdem sie die Assad-Diktatur hinter sich gelassen hatten. Bis heute gibt es nur sehr wenige organisierte und einflussreiche syrische Verbände, mit wenigen Mitgliedern und vielen Problemen untereinander. Die Organisationen der politischen Opposition scheitern jeden Tag kläglich, die wenigsten Syrer*innen unterstützen sie oder vertrauen ihnen. Im Gegenzug zu alldem hat eine kleine Anzahl von Landsleuten spektakuläre individuelle Erfolge in verschiedenen Bereichen erzielt.

Mehr als zehn Jahre nach der Revolution gegen das diktatorische Assad-Regime leben viele Syrer*innen in Berlin. Doch sie sind weder fähig, Gruppierungen zu gründen, um sich gegenseitig zu unterstützen, noch in Gruppen zusammenzuarbeiten oder eine Lobby zu bilden, um auf die internationale Gemeinschaft Druck auszuüben, die immer noch Beziehungen zu Assad unterhält. Und ohne echten Kern verschärft sich die Zerrissenheit unter ihnen immer mehr.

Im Projekt Geruch der Diktatur haben wir diejenigen, die Diktaturen erlebt haben, dazu aufgerufen, Geschichten, Träume und Bilder mit uns zu teilen. In dem Material, das uns geschickt wurde, tauchen immer wieder zwei Themen auf: Gerüche, was wohl mit dem Namen des Projektes zusammenhängt, und Schulen. In meiner persönlichen Erinnerung könnten der Unterricht und die in der Schule geknüpften Freundschaften überaus strahlend sein, wenn sie nicht überlagert wären von Erinnerungen an den militärischen Drill. Wie ich im Alter von 13 Jahren die tschechischen und russischen Gewehre zerlege und zusammensetze. Die khakifarbenen Uniformen – bis heute kann ich diese Farbe nicht tragen. Die Schläge mit dem Lineal auf die Finger. Mein Kopf unter kaltem Wasser, weil ich mich nicht richtig gekämmt habe. Wie ich mich am Hausmeister vorbeischleiche oder ihn besteche, um über die Schulmauer zu springen. Das auf die Tafel geklebte Bild des Präsidenten. Sein Bild auf den Umschlägen der Bücher, Blöcke und Notenhefte. Das Bild des Präsidenten auf den Flugblättern, die uns mit dem Brot untergeschoben werden und deren schlechte Tinte sich in unser Pausenbrot einprägt. Das Gesicht des Präsidenten. Wie sehr sich auch die Diktaturen in ihren Regimen, Formen, Ideologien und Geschichten unterscheiden, es ist immer gleich: das Gesicht eines farblosen Gottes.

*Dieser Artikel ist zuerst am 17.12.2021 auf ZEIT-ONLINE in der Serie 10 nach 8 erschienen.

Dima Al-Bitar Kalaji lebt als freie Autorin und Journalistin in Berlin. In Damaskus hat sie Radio SouriaLi mitgeleitet. In Berlin arbeitet sie als Co-Kuratorin und Redakteurin bei WIR MACHEN DAS. Sie hat die Podcasts Syrmania für Deutschlandfunk Kultur und (W)Ortwechseln – Weiter Schreiben Briefe in Kooperation mit rbbKultur produziert und Texte unter anderem bei der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht. Sie ist Gastautorin von 10 nach 8.

alle Texte
nach oben