Der Geruch des Archivs
Noura Chalati
Wenn man wie ich selbst nie eine Diktatur erfahren hat, sind die Gefühle und Erlebnisse von denjenigen, die in so einem System leb(t)en, schwer nachzuempfinden. Dennoch gehen mir allerlei Gedanken durch den Kopf, wenn ich die abgegriffenen Aktenordner im Lesesaal des Stasi-Unterlagen-Archivs sehe, fühle und rieche. Manche Ordner sind dick und schwer, andere ganz leicht, da sie nur ein paar Seiten enthalten. Sie riechen leicht muffig, hinterlassen ein stumpfes, staubiges Gefühl auf den Fingerspitzen und ziehen mich hinein in eine vergangene Zeit, deren Nachwirkungen bis heute spürbar sind.
Ich forsche zu dem Verhältnis zwischen der Stasi und den syrischen Geheimdiensten. Hunderte von Seiten überfliege ich, bis ich auf Informationen stoße, die mir mehr über die Beziehungen und den Wissensaustausch dieser gefürchteten Geheimdienste erzählen. Bei jeder Seite, die ich umblättere, raschelt es leise und ein leichter Windstoß bläst mir den abgestandenen Geruch der Dokumente in die Nase, die seit einigen Jahrzehnten im Archiv lagern. Einige Seiten sind fest und glatt, die Schreibmaschinen haben kleine schwarze Buchstaben hinterlassen. Manchmal kann ich die Buchstaben fühlen, wenn ich mit den Fingern darüberstreiche. Andere Seiten sind feine Durchschläge, so dünn wie Pauspapier. Diese Durchschlagpapiere sind Kopien, die zur Information und Ablage in andere Abteilungen der Stasi weitergeleitet wurden.
Einige persönliche Geschichten, die ich im Archiv las, haben mich regelrecht in ihren Bann gezogen – schockiert, traurig gemacht oder manchmal sogar schmunzeln lassen. Ich versuche, mir immer wieder zu vergegenwärtigen, dass dies wahre Erlebnisse sind und nicht bloße Geschichten. Beispielsweise sind da die zahllosen Anträge auf und Ablehnungen von Eheschließungen, häufig zwischen (ehemaligen) syrischen Studenten in der DDR und dortigen Bürgerinnen, gemeinsame „Übersiedelungsersuche“ in den Westen oder Ausreiseanträge nach Syrien. In einem Beispiel führte solch ein Antrag auf Eheschließung mit einem Syrer zum Verhör („Vorbeugungsgespräch“) einer DDR-Bürgerin (BArch, MfS, HA II, Nr. 26620, S. 20–22). Sie und ihr syrischer Freund hatten den Wunsch, den gemeinsamen Wohnort nach Westberlin zu verlagern. In der Folge des Gesprächs ließ sie sich darauf ein (oder wurde gezwungen?), eine Erklärung zu unterschreiben, in der sie angab, auf keinen Fall einen „ungesetzlichen Grenzübertritt“ zu unternehmen, da dieser strafbar sei. Damit war klar, dass sie von nun an unter strenger Kontrolle der Stasi stand. Womöglich um sich kooperativ zu zeigen, bat sie die Mitarbeiter*innen der Stasi „als staatliches Organ ein Gespräch mit ihrem Verlobten“ zu führen, in dem sie ihm erklären sollten, dass sich die Bearbeitung eines solchen Antrags auf Eheschließung und des Übersiedelungsersuchens bis zu mehrere Jahre hinziehen könne.
Die ersichtlich bürokratischen Anträge erscheinen auf den ersten Blick unpersönlich und abstrakt in ihrer Ansammlung und Ähnlichkeit. Auf den zweiten Blick offenbaren sie jedoch das krakenartige Eindringen des Geheimdienstes in das private Leben der Bürger*innen. Diese Dokumente lassen erstaunlich intime Rückschlüsse auf die Situation der Betroffenen zu, da sie zeigen, wie sehr die Menschen überwacht, analysiert und reglementiert wurden. Es wurden Akten mit „operativen Informationen“ angelegt, die nicht nur Namen, Geburtsdatum, Nationalität, Arbeitsstelle, Sprachkenntnisse, Kleidung oder Kontaktbereitschaft („kontaktfreudig, wenig gesprächig, abweisend“) enthielten. Intime Details der Beziehungen wurden ebenfalls akribisch notiert, etwa Anzahl und Lebensumstände der Kinder, Vorhandensein weiterer Sexualpartner*innen, wie lange die Beziehung schon läuft, sogar ob sie „ernsthaft“ ist oder nicht. All diese Details sammelte die Stasi über ostdeutsch-syrische Paare, die Anträge auf Eheschließung oder Ausreise stellten. Auf der Basis der gesammelten Informationen entschied die Stasi dann, ob den Anträgen stattgegeben oder ob sie abgelehnt wurden – natürlich mit enormen persönlichen Konsequenzen für diese Paare und eventuell ihre Kinder. Gab es auf DDR-Seite in der Familie ein*e „Geheimnisträger*in“, also jemand, der oder die in den Sicherheitsorganen der DDR arbeitete, so war es von vornherein sehr unwahrscheinlich, dass dem Antrag stattgegeben wurde. In Folge des starken psychologischen Drucks oder der verfahrenen Situation kam es nicht selten zur Trennung der Liebenden – ein Umstand, den die Stasi ebenfalls in diesen Akten festhielt. Manche unternahmen erfolgreiche Fluchtversuche (sogenannte „Schleusungen“) nach Westberlin, teilweise in diplomatischen Fahrzeugen anderer Regierungen. In vielen Fällen scheiterten diese Grenzübertritte aber und führten zu Inhaftierungen. Die Folgen der Überwachung durch die Stasi auf das Privatleben vieler ehemaliger DDR-Bürger*innen und Syrer*innen wirken bis heute fort. Für mich sind sie aber nur zu erahnen – jenseits dieser säuberlich getippten und abgehefteten Seiten.
Wegen der Coronapandemie lese ich nun viele der (anonymisierten) Dokumente zu Hause am Laptop. Die Gefühle, die die Dokumente durch ihren Geruch und die Haptik im Lesesaal bei mir auslösten, sind in die Ferne gerückt. Ich gucke auf den kalten Bildschirm und versuche mich daran zu erinnern, dass diese eingescannten Dokumente nicht nur abstrakte Analysegegenstände meiner Recherche sind, sondern Fragmente desrealen Lebens.
alle Texte