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Geruch der Diktatur
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Die Gasmaske – Gemisch aus Menstruationsblut und Sarin

Widad Nabi

@ Privat

Liebe Annett,

wie Du auf dem Bild mit Gasmaske und Schutzanzug stehst, sieht aus wie ein Standbild aus den achtziger Jahren. Dieses Foto bringt ähnliche Bilder von Ereignissen aus meiner Vergangenheit in mein Gedächtnis zurück, Wunden, die mich über all die Kriegsjahre begleiteten und nie ganz verheilt sind.

Als ich an jenem extrem heißen Morgen im August 2013 in unserem Haus in Aleppo aufwachte, fand ich meine Mutter und meinen Bruder vor dem Fernseher, ihre Gesichtszüge leblos und blass. Als ich die Szenen auf dem Bildschirm sah, wurde schlagartig auch aus mir das Leben herausgesaugt. Auf dem Boden waren Leichen Hunderter Menschen aneinandergereiht, darunter viele Kinder und Frauen. Ganze Familien waren in ihren Häusern an Sarin erstickt, mit dem das syrische Regime „seine“ Bürger angegriffen hatte.

Auf den Lippen der Kinder bildete sich Schaum. Sie starben, ohne es zu begreifen. Träumten sie in diesem Moment von ihren Lieblingszeichentrickfilmen? Haben sie geschrien? Niemand weiß, wie ihre letzten Momente aussahen, doch sicher ist, dass sie keine Gasmaske und keinen Schutzanzug anziehen konnten. Das Gas stieg in der Luft auf, erklomm die Mauern der Gebäude und die Maulbeerbäume, umhüllte die Gesichter der Kleinen in der Umarmung ihrer Mütter. Vögel stürzten tot in die Massengräber, auch sie hatten keine Gasmasken …

Als meine Erstarrung vor dem Fernseher nachgelassen hatte, lief ich zum Bad und übergab mich. Tagelang wurde mir von jeder Mahlzeit schlecht. Wie Millionen Syrerinnen und Syrer konnte ich nicht glauben, dass etwas so Grausames möglich war. Alle können sich an Tschernobyl erinnern, und doch wissen wir, dass dies ein Bild aus einer brutalen Vergangenheit ist, die wir schon überwunden haben. Dabei vergessen wir, dass sich Diktaturen nicht wirklich unterscheiden. Sie haben einen ähnlichen Geruch, erzeugen ähnliche Bilder, bilden ähnliche Gesellschaften und verwenden die gleichen Strategien, um Angst zu erzeugen.

Zwischen dem DDR-Regime und der syrischen Diktatur gibt es erschreckend viele Berührungspunkte. Deine Erzählung vom Wehrunterricht und den Handgranatenübungen versetzt mich sofort in meine Schuljahre. Mit dem ersten Tag an der Mittelschule hatte sich alles verändert. Die Kindheit war vorbei und es fing ein neues Leben an: Eins, in dem dreizehnjährige Menschen mit Härte und militärischer Disziplin vertraut gemacht wurden. Das Leid fing schon damit an, dass wir in der Schule eine Militäruniform und schwarze Armeestiefel tragen mussten. Ich sah damit so lustig aus – wie ein Spatz, der sich als Soldat verkleiden wollte. Mit meinen 157 Zentimetern Größe und einem zierlichen Körper war mir, als ob die Schuhe mehr als mein Kopf wiegen würden.

Es ist mir niemals gelungen, mich an diese hässlichen Kleider zu gewöhnen. Ich lernte nur, die Farbe Khaki für immer zu hassen. Es war wie eine Persönlichkeitsspaltung zwischen meinem in die Militäruniform gequetschten Selbst und der Rolle, die ich darin spielen sollte.

Doch die Kleidung war nicht mein einziges Problem an der Schule. Schlimmer noch war der Wehrunterricht, in dem wir im „sozialistischen Geiste“ lernten, wie man eine Kalaschnikow auseinandernimmt und lädt. Mich ergriff vor jeder Unterrichtsstunde Panik. Jedes Mal machte ich Fehler bei allen Bewegungen. Beim Gruß zitterte meine Hand wie die Hände aller Mädchen, die viel lieber ihre Nägel mit schönen Farben lackieren und tanzen wollten, anstatt diese sinnlosen Bewegungen nachzuäffen. Ich erinnere mich noch, wie die Lehrerin über mich spottete: „Was ist das? Ist deine Hand ein Spatz, du Trottel?“ Ich schwieg. Auf Beleidigungen gibt es in Diktaturen keine Antwort, man verschluckt das Leid ohne ein Wort.

Keine der Wehrkundelehrerinnen mochte mich. Ich spürte ihren unterbewussten Hass. Vielleicht sahen sie in meiner Zartheit eine Schwäche, die ihrem harten Beruf nicht gebührte. Meinen Platz im Klassenraum suchte ich immer ganz hinten und bückte mich in der Hoffnung, mein Körper könne noch kleiner werden und verschwinden. Die Lehrerinnen konnten den Geruch der Angst spüren. Nichts auf dieser Welt war fähig, mich vor diesen Bestien zu schützen. Wenn sie meinen Namen riefen, kam er verunglimpft und hässlich aus ihren Mündern, mit Eiterbeulen bedeckt.

In der zehnten Klasse erlebte ich eine besondere Demütigung. Ich verspätete mich um fünf Minuten zum morgendlichen Fahnenappell. Die Wehrkundelehrerin hielt mich und einige andere, die auch zu spät gekommen waren, an. Wir sagten zusammen mit den anderen den restlichen Text auf, doch danach durften wir, die wir uns verspätet hatten, nicht in die Klassenzimmer. Die Lehrerin beschimpfte uns und befahl uns, eine nach der anderen auf dem Bauch ein paar Meter weit über den steinernen Boden des Schulhofs zu kriechen. Ein Mädchen brach in Tränen aus und bat um Entschuldigung, da sie wegen ihrer Periode starke Bauchschmerzen hatte.

In einer von Unterdrückung geprägten Welt in Militäruniform nützen aber keine Bitten. Wir mussten kriechen, allen voran das weinende Mädchen, Schluss. Mit größter Mühe bewegte sie sich mit ihrem großen Busen, mit ihren Menstruationsschmerzen über den Boden und tränkte den Schulplatz, mein Herz und die ganze brutale Welt mit ihren Tränen. Ihre mit Menstruationsblut befleckte Hose blieb für mich für immer das Bild des diktatorischen Regimes in meinem Land.

Als ich dran war, bewegte sich etwas in mir. Bis heute habe ich keine Ahnung, woher das kam: Vielleicht war es das weinende Mädchen, vielleicht wollte ich mich einer ähnlichen Demütigung nicht aussetzen. Wie dem auch sei, ich widersetzte mich dem Befehl und verwies auf das einige Monate zuvor erlassene Gesetz, das Körperstrafen an allen Schulen verbot.

Nun brach die Hölle los. Die Lehrerin warf meinen Rucksack auf den Boden des Schulhofs, packte mich an den Schultern und fing an, mich gewaltsam im Kreis zu schleudern. Mein Kopf explodierte fast vom Schwindel. Ich konnte mich befreien und fiel zu Boden. Die Lehrerin überhäufte mich mit Beschimpfungen. Sie schrie: „Wie kannst du es wagen, einen militärischen Befehl zu hinterfragen und darüber zu diskutieren?“

Das Geschrei hatte bereits die Schulleiterin und die Verwaltungsleiterin angelockt, die nun zuschauten, wie die Wehrkundelehrerin mich zu treten und zu schlagen versuchte. Offenbar lief es zu ihrer Zufriedenheit ab. Denn Widerstand und das Wort „nein“ lösen Angst aus in jedem Land, in dem es keinen Platz für Befehlsverweigererinnen gibt.

Mein Widerstand war aber keineswegs in Mut begründet. Ich, die ich mein ganzes Schulleben lang in ständiger Furcht vor dem Wehrunterricht lebte und wie ein Wurm in die Ecke hineinkroch, um mich vor dem Blick der Wehrkundelehrerin zu verstecken, hatte einen anderen Grund. Der Geschmack der Beleidigung war so stark, dass ich ihn nicht ignorieren konnte. Als mir die Wehrkundelehrerin drohte, mich der Schule zu verweisen, erwiderte ich unter Tränen: „Wie dem auch sei, kriechen werde ich nicht.“

Plötzlich vergab sie allen verspäteten Schülerinnen und ließ mich ganz allein auf dem Schulhof. Ein weicher Regen kam und beruhigte mich etwas. Ich stand da, weinte, wischte die Tränen weg und wischte mir die Nase mit dem khakifarbenen Ärmel der Uniform. Wenn doch Tränen eine Farbe hätten! Ich hätte sie so gerne über alles Khaki geschüttet, um diese verhasste Farbe aus der Welt zu verbannen.

Monate später sah ich die Wehrkundelehrerin im Flur in Gesellschaft eines Lehrers, den ich mochte. Sie lachte laut auf – es war ein schönes Lachen. Der Lehrer rauchte mit ihr eine Zigarette, als ob sie gute Freunde wären. Zum ersten Mal sah ich sie genauer an, vielleicht weil sie neben jemandem stand, den ich gern hatte. Sie war schlank, hatte schöne Hände und lachte so jugendlich. In dem Versuch, sie einfach als einen Menschen zu sehen, wollte ich die Kränkung aus meinem Herzen entfernen. Ich wollte ihre weibliche Seite kennenlernen, schauen, wie sie neben einem Mann fröhlich war, eine Zigarette in ihrer hübschen Hand. Es dauerte wenige Minuten, bis die Verletzung zurückkam und ihr Gesicht mit khakifarbenen Pickeln übersäte. Die Pickel platzten und fingen an zu eitern wie eine offene Wunde, die mit ihrem leeren Maul nach der Erinnerung greift.

Nach der Revolution, die sich zu einem Krieg entwickelte, habe ich das Land verlassen. In meiner Hand hielt ich eine schwarze Tasche, in meinem Gedächtnis aber glänzte weiterhin die khakifarbene Verletzung. Immer wenn ich versucht habe, mich an diese Vergangenheit zu erinnern, an unser Leben im Schatten der Tyrannei, kam der Geruch von Menstruation, Schweiß und Sarin zurück. Die Diktatur hat unser olfaktorisches Gedächtnis für die kommenden Dekaden besetzt. Auch ich selbst fühle mich als Mensch, in meinem ganzen Wesen davon besetzt.

* Übersetzung: Aus dem Arabischen von Filip Kaźmierczak

Widad Nabi, geboren 1985 in Kobani in Syrien, ist eine kurdisch-syrische Autorin und Dichterin. Viele ihrer Texte wurden ins Deutsche und in andere Sprachen übersetzt. In Deutschland publizierte sie in der Berliner Zeitung, im Freitag, bei Spiegel Online, Zeit Online, Vogue und in diversen Anthologien. 2018 bekam sie das erste Weiter Schreiben-Stipendium Wiesbaden. 2019 erschien ihr erstes Buch in deutscher Sprache „Kurz vor dreißig, … küss mich“ im Sujet Verlag. 2020 war sie Stadtschreiberin in Rheinsberg.

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