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Geruch der Diktatur
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Das Nachtlicht der Erinnerung

Julia Schoch

Wand mit alter Tapete, Julia Schoch Geruch der Diktatur © Maritta Iseler
© Maritta Iseler

 

Manchmal fällt in Filmkomödien das Porträt eines Diktators von der Wand und darunter kommt dann das Bild des vorherigen Despoten zum Vorschein, das wiederum das Bildnis eines noch früheren Herrschers verdeckt und so weiter und so fort. Offenbar reicht ein kurzes Erdbeben, eine Rauferei, und die vermeintlich festgeschriebene Geschichte kommt zu Fall.

Wenn ein politisches System untergeht, verschwinden die alten Machthaber, es verschwinden die Strukturen und Eliten dieses Systems, es verschwinden die Statuen, Abzeichen und Symbole der einstigen Herrschaft. Das geschieht oft schnell. Bilder, Schilder und Wandfriese lassen sich leicht entfernen. Man dreht sich um, und plötzlich ist eine ganze Welt verschwunden. Nur ein ausgeblichenes Stück Tapete, ein fahler Fleck an der Wand erinnert daran, dass da mal irgendwas war. Man kann diese Flecken übermalen. Doch selbst wenn man sie verdeckt, wenn die Menschen es schaffen, sich neu zu orientieren, wenn sie es fertigbringen, mit dem sogenannten Strom der Zeit zu schwimmen und sich auf die neuen Umstände nicht nur einlassen, sondern sie sogar jubelnd begrüßen, bleibt etwas zurück. Ferne Prägungen, Einstellungen, Kopfbilder … geheime Ahnungen der Vergangenheit. Selbst übertüncht sind sie noch da, im Dickicht der Erinnerung.

Wenn ich mich als Kind einer Grenze näherte, meist auf der Rückbank des Familienautos, einem Wartburg, später einem Lada, war ich aufgeregt. Eine Mischung aus Respekt und Trotz und Angst. Auch wenn es kein verbotener Grenzübertritt war – wie auch, wozu? –, sondern nur der übliche Übergang zur Ferienzeit in Freundesland, nach Polen, Ungarn oder in die Tschechoslowakei, musste man auf der Hut sein. Der Körper spannte sich an, der Geist war mit einem Mal hellwach. Es gab Regeln zu beachten: nicht zu viel reden, am besten gar nicht sprechen. Nicht zu neugierig schauen, aber auch nicht wegsehen. Keine Scherze, keine Fragen. Immer war es Nacht, so umgingen wir die Staus, außerdem, so hieß es, waren die Grenzpolizisten nachts zu müde für Durchsuchungen. Trotzdem zog ich mir sicherheitshalber die Schuhe an, sobald die hell erleuchteten Übergänge in Sichtweite kamen.

Die Grenze machte, dass man Teil eines unergründlichen Geheimnisses war. Sie machte, dass man sich schuldig fühlte, ertappt, ohne dass man wusste, wobei. Ein Netz aus Verrat und Schuld, zu dem die Erfahrung fehlte.

Unser unausgesprochenes Mitleid jedes Mal, wenn wir langsam an denen vorbeirollten, die gefilzt wurden, ihr ausgebreitetes Gepäck am Rande der Straße im Scheinwerferlicht, und die genauso stumme Erleichterung, wenn man selbst durchgewunken wurde, erst auf der Hinfahrt, später dann auf dem Rückweg, wenn man beim Anblick der heimischen Ortsschilder aufatmete. Triumphierend erzählten wir uns selbst, wie wir die Turnschuhe, die Kristallgläser, die Gitarre oder die Filzstiftpackungen in die Heimat geschmuggelt hatten. Die Anspannung, die abfiel von allen, ein lautes Plappern, jetzt, da man wieder in Sicherheit war, bevor ich wieder einschlief, auf den Jacken und Decken, die für uns Kinder im Wagenfonds drapiert worden waren.

Mit diesen Erinnerungen bin ich nicht allein. Für die meisten Menschen damals in dem Land waren Grenzen, Verbotszonen und Sperrgebiete ein fester Bestandteil ihres Alltags. Wir lebten  in einem Kosmos aus Warnschildern, Wachleuten und Pförtnern, in einer Welt der verinnerlichten Regeln, des einstudierten Respekts, der Vorsicht und Wachsamkeit. Verbotene Gebiete waren Inseln im Innern, nicht in der Ferne. Man umkreiste diese abgeriegelten Zonen buchstäblich, man umging sie, musste ausweichen, wurde manchmal aufgehalten, war zu Umwegen gezwungen. Meistens nahm man sie gleichmütig hin. Sie waren etwas Selbstverständliches. So wie auch die Angst selbstverständlich war. Und das Wissen, dass Geheimnisse dazu da sind, bewahrt zu werden anstatt gelüftet.

Mit alledem war es irgendwann vorbei. Das Zeit-Muster wechselte. Mit der Revolution 1989 verschwanden die meisten der abgeriegelten, verbotenen Zonen. Der ernste Ruf „Lasst uns raus“, der in den allerersten Revolutionsmärschen angeklungen war, um das Land verlassen zu dürfen, verwandelte sich nach der Öffnung der Grenzen hier und dort in ein schalkhaftes „Lasst uns rein“, wenn es bei den Ausweiskontrollen in den Tagen nach dem Mauerfall mal wieder zu lang dauerte. Aber dieser Ruf ist mehr als ein Witz. Er erinnert daran, dass jede Revolution an der Vernichtung des Geheimnisses und zugleich an der Erschaffung einer transparenten Welt arbeitet, durchlässig und klar. Man duldet es nicht mehr, vom Geheimnis ausgesperrt zu sein, in das jede diktatorische Macht sich hüllt. Man will nicht mehr länger ohne Zugang sein zu den geheimen Inseln der Macht. Man will überall sein dürfen.

Wenn das Geheimnis gelüftet wird, kommt aber nicht das Verborgene zum Vorschein. Ein geschminktes Gesicht wird nicht kenntlich, indem man es abschminkt. Das Verborgene kann nie gesehen, sondern nur erahnt werden. Man kann es umkreisen, sich ihm nähern. Es ist etwas Drittes, das zum Vorschein kommt, wenn sämtliche Türen aufgerissen werden: ein Zeichen, das nur noch daran erinnert, dass es einmal etwas Verborgenes gegeben hat. Ein Verweis auf eine andere Welt, die in genau dem Moment aufhört zu existieren, da die Augen sich öffnen.

Das System ist längst verschwunden. Die Grenzen sind unsichtbar geworden. Doch es bleibt immer etwas zurück. Urbilder, Urgerüche. So werden für mich  Blaubeeren im Wald vermutlich immer mit Munition verbunden bleiben, und  Pilze mit Panzerunterständen . Sogar Grenzen nehme ich manchmal auf unheimliche Weise als etwas Vertrautes wahr. Genau wie Uniformen. Man kann das belächeln, man kann sich darüber klarwerden, aber ich habe keinen Zweifel, dass es solche intuitiven, früh angelegten Bilder, Gerüche und Ansichten sind, die uns auch später im Leben oft lenken, die uns ein Gefühl der Fremdheit oder Zugehörigkeit empfinden lassen und mitentscheiden, warum wir uns an bestimmten Orten vertraut, ja sogar aufgehoben fühlen oder mit bestimmten Menschen Allianzen  schmieden und mit anderen nicht. Sie sind wie ein Nachtlicht, das sanft, aber spürbar im Hintergrund brennt. Wir bleiben in ihrem Bann.

Julia Schoch (geb. 1974 in Bad Saarow) studierte Literatur und lebt heute als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Sie veröffentlichte u.a. den Erzählungsband „Der Körper des Salamanders“ (2001) sowie die Romane „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ (2009) und „Schöne Seelen und Komplizen“ (2018). Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und den André-Gide-Preis. Im Oktober 2020 hatte ihr Theaterstück „Die Jury tagt“ am Hans Otto Theater in Potsdam Premiere.

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