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Geruch der Diktatur
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Kreidestaub, ranzige Milch und ölige Kehrspäne

Andreas Kosmalla

Eine typische Polytechnische Oberschule der DDR, hier: Schülerinnen und Schüler beim Fahnenappell in Erfurt, 1.9.1972 © Bundesarchiv, Bild 183 L0901 0021 / Fotograf: Dieter Demme (CC BY-SA 3.0 DE)

 

Die Polytechnische Oberschule, die ich von der dritten bis zur zehnten Klasse besucht habe, ist ein großes, solides, ansprechendes Gebäude, kein DDR-Plattenbau. Es könnte ein Ort schöner Kindheitserinnerungen sein. Für mich, ein Kind aus christlichem Elternhaus, war sie aber in vieler Hinsicht eine graue Gegenwelt zu meinem vertrauten Zuhause in einem Pfarrhaus mit riesigem Garten in einem dörflichen Ortsteil meiner Heimatstadt Jena.

Prägend für mein Schulerlebnis waren weniger die gelegentlichen persönlichen Diskriminierungen oder Demütigungen ideologisch beflissener Lehr- und Erziehungspersonen. Was von denen zu erwarten war, wusste man, und meine Eltern waren geübt darin, gegen direkte Rechtsverletzungen ihrer Kinder vorzugehen. Es war vielmehr der Mehltau der vielen tagtäglichen Bevormundungen, Gängeleien, ständig abverlangten Treuebekenntnisse und des Widerspruchslos-mitlaufen-Sollens, dem ich mich unentrinnbar ausgesetzt fühlte und der mich oft sehnsüchtig auf das Ende des Schultages warten ließ.

Wahrscheinlich riecht es in den meisten Klassenzimmern dieser Welt immer ein wenig nach Kreidestaub und alten, nassen Schwämmen oder Lappen. Und nicht zu vergessen auch hier und da nach angegammelten Schulbroten oder Obstresten unter einer Schulbank. In der DDR kam gelegentlich noch der Geruch verschütteter Schulmilch hinzu, die wir kostenlos bekamen. Eigentlich keine schlechte Sache, aber ich mochte in und nach der Schulzeit lange Jahre keine Milch mehr.

Neben der beschriebenen geistigen Atmosphäre ist diese Geruchsmischung aus vielen Klassenräumen eine bleibende Kindheitserinnerung mit Symbolcharakter. So wie mir der Appetit auf gute Milch wurde uns die Freude an Literatur, Theaterstücken und Gedichten durch starre, langweilige Interpretationsvorgaben ausgetrieben, für manche für das restliche Leben. Es gab verpflichtende Theaterbesuche – eigentlich eine tolle Sache, die aber zu Zwangsveranstaltungen wurden, bei denen lärmendes Desinteresse im Zuschauerraum vorherrschte – eine Qual für die Theaterleute und die wirklich interessierten Schüler*innen.

Unser Schulhof war größtenteils asphaltiert. Wo wir aber zum Ende jeder großen Hofpause einige Jahre lang klassenweise in Doppelreihen antreten mussten, um auf Kommando nacheinander in die Klassenräume eskortiert zu werden, dort staubte es immer ordentlich. Spätestens wenn es zwischen den Zähnen knirschte, war das Signal spürbar: Zusammenreißen jetzt, Mund halten und mitspielen. Für große Fahnenappelle war der Hof zu klein, die fanden in der Aula statt. Man konnte dabei sitzen und der blechernen Tonbandmusik beim „Fahneneinmarsch“ sowie den Reden der Schulleitung lauschen – oder weghören.

Mein größtes persönliches Problem in der Schule war aber noch etwas anderes. Die Dynamik unter Schüler*innen in Klassen und Cliquen wird leider schon immer davon gespeist, dass Außenseiter*innen gesucht und geschaffen werden – und so war ich durch mein bloßes Anderssein, nämlich schlicht meine Herkunft aus jener Pfarrersfamilie, jahrelang prädestiniert für Ausgrenzung und Drangsalierung durch Mitschüler*innen. Offiziell wurde das natürlich missbilligt, aber wirklichen Schutz gegen Mobbing habe ich fast nie erfahren. Dabei glaube ich gar nicht, dass es konkret um eine bestimmte Einstellung ging – mein jüngerer Bruder, der sich vom Christsein abgrenzte und sich mit einem „Was mein Vater macht, geht mich nichts an“ zu schützen versuchte, wurde genauso als „Pfarrerschwein“ beschimpft und verdroschen wie ich. Da bekamen wir reichlich Schulhofstaub zu schmecken.

Am Ende jedes Schultages mussten immer ein paar Leute den Klassenraum aufräumen. Die letzte Gelegenheit, uns noch mal ein bisschen herumzukommandieren. Damit der Schmutz beim Fegen besser aufgenommen werden konnte und für die Pflege des Bodens, mussten wir Kehrspäne benutzen, in Bohnerwachs getränktes Sägemehl. Wenn ich jetzt an sie denke, scheint sich darin meine ganze Erinnerung an die Schule zu verdichten: Sie waren ölig, grünlich und sie hatten einen widerlichen Geruch.

Andreas Kosmalla (geb. 1962 in Weimar) wuchs in Thüringen in einer Pfarrers-familie auf. Aufgrund dieser Herkunft wurde er in der DDR nicht zum Abitur zugelassen. Seit der Schul- und Lehrzeit engagierte er sich in der kirchlichen Jugend- und Friedensarbeit, nach seinem Wehrdienst als Bausoldat ab 1986 im „Arbeitskreis Wehrdienstfragen“ beim Stadtjugendpfarramt Jena. 1989/1990 arbeitete er beim Neuen Forum Jena mit. Später war er mehr als zwanzig Jahre Bildungsreferent in der außerschulischen Jugendbildung. Seit Herbst 2015 leitet er ein Flüchtlingsheim ((eine Einrichtung für Geflüchtete?)) im nordwestlichen Brandenburg.

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