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Der Freiraum zwischen den Stühlen

Uta Rüchel

Uta Ruechel 1990, Horizonte - DDR Entwicklungshilfe © HRFernsehen / Screenshot
Uta Rüchel 1990, Interview zur Eröffnung eines besetzten, damals so genannten Dritteweltladens in Berlin © Horizonte, HR Fernsehen / Screenshot

Es gibt Gerüche, die mich an meine Kindheit erinnern. Wie der nach Heidekraut, Kiefern und Sand. Dahinter wartete das sich ins Endlose dehnende Meer. Noch heute öffnen sich alle Poren, wenn ich es hören, schmecken und riechen kann, lange bevor ich es sehe. Die Erinnerungen an das Zimmer des Schuldirektors, die mit vielen Frauen geteilte Zelle in der Untersuchungshaft, das Büro in der Stasi-Zentrale sind anders verankert. Kein Geruch, kein Geschmack, kein Geräusch führt zu ihnen hin. Dennoch reagiert in manchen Situationen mein Körper, wird zum Panzer, der das Innere schützt. Im besten Fall wird so Verteidigung möglich, andernfalls steht wenigstens die Abwehr. Es funktioniert wie ein mechanischer Reflex. Er ist mir früh zu eigen geworden, an Tagen, an denen das Meer fern und das Elternhaus kein sicherer Ort war. Er hat sich verfestigt angesichts eines übermächtigen Staates, in dem ich aufwuchs. Und noch immer begleitet er mich.

Als ich fünfzehn war, wurde ich zum Direktor meiner Schule zitiert, weil ich mit einem Aufnäher für Schwerter zu Pflugscharen warb und die Stationierung sowjetischer Atomraketen in der DDR nicht mit meiner Unterschrift gutheißen wollte. Wir diskutierten über das Kriegsrecht und die Gewerkschaftsbewegung Solidarność in Polen. Als ehemaliger Offizier der NVA und Genosse der Einheitspartei stand der Direktor fraglos auf der Seite derer, denen Gewalt gegen Andersdenkende als letztes Mittel durchaus legitim erschien. Eine wie mich konnte er für das Abitur nicht empfehlen. Ich nahm die Absage hin. Ich glaubte daran, dass man für seine Überzeugungen einstehen müsse, und erlernte einen Beruf. Später ging ich nach Berlin, arbeitete in einer Geschützten Werkstatt für Menschen mit Behinderung und engagierte mich in der Opposition, die heute gerne als Bürgerbewegung bezeichnet wird: für mehr globale Gerechtigkeit, für mehr Meinungsfreiheit, gegen die herrschende Engstirnigkeit und Willkür. Ich war jung und unerschrocken genug, um zu tun, was ich für richtig hielt.

Während der Demonstrationen für freie Wahlen im Mai und Juni 1989 luden Männer in Zivil mich auf einen LKW und brachten mich in die U-Haft nach Rummelsburg. Dort saß ich mit vielen anderen Frauen in einer Zelle. Sie redeten laut und wütend durcheinander, schrien die Wärter an oder verhöhnten sie. Ich kauerte in einer Ecke und wollte, dass sie still sind. Ihr Geschrei störte mich mehr als alles andere. Es störte mich beim Einigeln. Mehr noch, es verstörte mich. Plötzlich waren sie mir fremd, spiegelten mir meine eigene Unfähigkeit, aufzustehen und loszuschreien.
An das anschließende Verhör und auch an die zweite sogenannte Zuführung einen Monat später habe ich keine Erinnerungen. Sie sind wie getilgt aus meinem Gedächtnis.

Was war los mit mir? Warum konnte ich nicht wüten und schreien wie die anderen? Von meinem Recht auf eine andere Meinung war ich doch seit langem überzeugt und hielt damit nicht hinter dem Berg. Ich stand „in der zweiten Reihe der politischen Untergrundtätigkeit“, wie die Stasi in einem ihrer Berichte resümiert und damit den Nagel ausnahmsweise so ziemlich auf den Kopf getroffen hatte. Woher kam plötzlich diese Erstarrung, das unbändige Bedürfnis, mich einzuigeln? Offenbar war die Situation für mich so bedrohlich, dass ich kaum noch etwas wahrnehmen, geschweige denn darauf reagieren konnte. Damals habe ich darüber nicht lange nachgedacht. Wenige Monate später begannen überall im Land die großen Demonstrationen, die Mauer fiel und unser Tatendrang war nicht zu bremsen. Für einen langen Herbst schien alles möglich. Endlich brauchten wir das schützende Dach der Kirche nicht mehr, um unsere Zeitschriften zu veröffentlichen, konnten einen leerstehenden Laden besetzen, demonstrieren, ohne abgeführt zu werden, uns in aller Öffentlichkeit äußern. Westberliner Freunde sagten uns unsere Ernüchterung voraus. Wir bestanden darauf, eigene Erfahrungen zu machen.

In meinem Fall ließ die Ernüchterung nicht lange auf sich warten. Die erste Konfrontation mit dem neuen System, dessen Teil ich nun zwangsläufig war, hatte ich 1991. Meine Arbeit in der Geschützten Werkstatt war nach wie vor dieselbe, nur der Arbeitgeber hatte gewechselt. So verteilte die alte Kaderleiterin, die zuvor der Einheitspartei treue Dienste geleistet hatte, einen Fragebogen des Senats von Berlin. Die Angaben zu meiner Person füllte ich bereitwillig aus. Doch die Frage nach einer Mitgliedschaft in all den Massenorganisationen, denen in der DDR fast ausnahmslos jeder angehört hatte, befremdete mich. Was ging das meinen Arbeitgeber an? Was wollte er daraus ableiten? Welches Recht hatte er, mich das zu fragen? Natürlich wurde auch nach einer Mitgliedschaft in der SED und einer Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit gefragt. Das wäre vielleicht noch nachvollziehbar gewesen – und mit dem Abstand von heute habe ich Verständnis dafür. Doch damals kam es mir zynisch vor, dass dieselben Personen, die von Amts wegen eng mit Partei und Stasi zu tun gehabt hatten, weiterhin in ihren Sesseln saßen und solche Personalfragebögen verteilten. Ein Kollege und ich ließen die entsprechenden Fragen offen, was eine Abmahnung zur Folge hatte. Zwei andere Kollegen gaben den Bogen erst gar nicht zurück, sie kamen ungeschoren davon. Offenbar war unsere explizite Weigerung die größere Provokation. Uns wurde gekündigt, wir klagten. Vor Gericht zeigte sich, was wir vermutet hatten: Es gab keine ausreichende rechtliche Grundlage für die Abfrage einer Mitgliedschaft in den Massenorganisationen. Der Prozess endete mit einem Vergleich und einer Entschädigung, denn inzwischen hatte ich ein Studium begonnen. So standen beide Erfahrungen nebeneinander: einerseits die ungerechtfertigte Kündigung und andererseits die erfolgreiche Klage dagegen und nicht zuletzt die Möglichkeit, auch ohne Abitur zu studieren. Während ich die Geschichte aus einem Abstand von dreißig Jahren erzähle, wird mir deutlich, wie wenig ich diesen Staat und seine Institutionen damals verstand. Doch wie auch? Ich war dreiundzwanzig und hatte gerade erlebt, wie mit dem Ergebnis der vorgezogenen Wahlen vom März 1990 unsere Hoffnungen auf etwas wirklich Neues zu einem großen Teil zerstört waren. Das mit dem Willen der Mehrheit übernommene System setzte auf einen Status quo, dessen Zukunftsfähigkeit seit dem Bericht des Club of Rome von 1972 über die Grenzen des Wachstums längst in Frage stand und ohnehin auf ungerechten Weltwirtschaftsbeziehungen basierte. Demokratie? JA! Kapitalismus? NEIN! Aus diesem Dilemma gab es keinen Ausweg. So blieb ich trotz allem in kritischer Distanz.

Ausgerechnet meine SED-kritische Vergangenheit führte alsbald zu einer weiteren ernüchternden Erfahrung. Im zweiten Studienjahr bewarb ich mich um ein Stipendium einer gewerkschaftsnahen Stiftung. Meine Chancen standen mehr als gut, gemeinsam mit zwanzig anderen ausgewählten potenziellen Stipendiat*innen wurde ich zu einem letzten Gespräch eingeladen. Doch den vor mir sitzenden älteren Herren, nebst einer einzelnen Frau, war ich offenbar suspekt. Sie fragten kritisch nach, warum ich aus dem FDGB, dem ostdeutschen Gewerkschaftsbund, ausgetreten sei. Es schien ihnen nicht klar zu sein, dass dieser Bund alles andere als eine Vertretung der sogenannten Werktätigen gewesen war und einen Teil seiner Mitgliedsbeiträge zweckentfremdet verwendet hatte. Ebenso kritisch fragten sie nach meinem Engagement in oppositionellen Gruppen der DDR für die Befreiungsbewegungen in Nicaragua und El Salvador. Am Ende des Tages erhielten alle Anwesenden eine Zusage für das Stipendium, außer einem jungen Mann, der Mitglied der PDS war, und mir. Irritiert von so viel Engstirnigkeit nahm ich die Absage hin, blieb bei meinen Überzeugungen und ging weiterhin neben dem Studium arbeiten.

Als Letztes möchte ich beispielhaft eine Situation aus meinem beruflichen Alltag als Autorin und Filmemacherin und meiner Beschäftigung mit der deutsch-deutschen Geschichte schildern. Anfang der 2000er Jahre bestimmten den Diskurs über die Erinnerung an die Vergangenheit immer noch jene, die im Namen der Freiheit siegesgewiss über das Ende der DDR triumphiert hatten und gerne in einem Atemzug von den beiden deutschen Diktaturen sprachen. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen legt mir dieser Ausdruck seit jeher eine Gleichsetzung zu nahe, was mir erst recht problematisch erscheint, wenn nachfolgenden Generationen die jüngste Geschichte vermittelt werden soll. Im Zusammenhang mit einem Unterrichtsfilm zum Umgang mit dem Nationalsozialismus in Ost und West, finanziert von einer mit der Aufarbeitung betrauten Stiftung, ging der Streit wochenlang hin und her: Mein Kommentar, in dem ich von einer SED-Diktatur sprach, die nach 1945 begann, war den Geldgebern offenbar nicht scharf genug. Die Herrschaft der SED sollte unbedingt als zweite deutsche Diktatur bezeichnet werden. Nicht, dass sich nicht auch darüber streiten ließe. Aber dass versucht wurde, mir als Autorin und Produzentin – ohne inhaltliche Begründung und Diskussion – eine Sprachregelung vorzuschreiben, hat mich mehr als irritiert. Es hat mich wütend gemacht. Und wahrscheinlich eine alte Erfahrung von Ohnmacht in mir wachgerufen.

Was sich hier zunächst wie ein Kreis zu schließen scheint, ist weitaus vielschichtiger und bleibt mehrdeutig. Ich versuche die Spur zurückzuverfolgen. Unter welchen Umständen konnte ich für mich einstehen? Wann blieb ich wie gelähmt, sprachlos, ohnmächtig zurück? Warum scheiden sich meine Erfahrungen nicht an der Grenze des Systemumbruchs, gibt es kein eindeutiges Davor-Danach?

Vor einigen Jahren erzählte meine Mutter mir von einer für sie prägenden Situation: Sie war gerade einmal elf Jahre alt, als ihre Mutter sagte: „Wenn der Stalin stirbt, schneide ich ein Brot an“ – ein Ausdruck höchster Freude. Ahnungslos erzählte sie einer Freundin davon und berichtete wiederum am Abend ihrer Mutter von ihrem Gespräch mit der Freundin. Für einige Tage lebten sie in der Angst, abgeholt zu werden und im Gefängnis zu landen. Meine Mutter muss sich fortan gehütet haben, etwas zu sagen, was für sie und ihre Familie gefährlich werden könnte. Gesprochen hat sie darüber – bis zu jenem Gespräch vor wenigen Jahren – nie. Mein Vater ermahnte mich als rebellierende Jugendliche nur, mich anzupassen, bis ich eine einflussreiche Position erreicht hätte. Ich war überzeugt, dass ich so zwangsläufig zu einer anderen Person werden würde, und bestand darauf, meine Meinung im Hier und Jetzt zu vertreten. Heute weiß ich, wie sehr meine Eltern von ihrer Nachkriegskindheit, ihrem Aufwachsen in einer Flüchtlingsfamilie, ihrem unfreiwilligen Leben in der DDR – ihre jeweiligen Fluchtversuche scheiterten am Mauerbau – geprägt waren. Damals wusste und ahnte ich nichts davon. Zwei Diktaturen, die nahezu nahtlos, wenn auch unter anderen Vorzeichen und mit verschiedenen Folgen, ineinander übergehen, hinterlassen ihre Spuren. Doch es gibt keine Stunde Null. Die Geschichte geht weiter: Nicht nur in mir tauchen alte Ohnmachtsgefühle, Wut oder das Bedürfnis, mich einzuigeln, weiterhin auf. Auch meine Mutter, die zeitlebens als Krankenschwester gearbeitet hat, sagt von einer ihr verordneten Umschulung in den 1990er Jahren im Westen, nie in ihrem Leben habe sie sich so klein gefühlt.

All das sind sehr persönliche Gefühle und Geschichten, die sich jeglicher Verallgemeinerung entziehen. Sie verweisen zweifellos auf familiäre wie gesellschaftliche Prägungen. Was sie zu einen scheint, ist die Erfahrung von Kontrollverlust, dem Verlust der eigenen Handlungsfähigkeit. Ein solches Erleben kann sich im Bruchteil einer Sekunde in Wut oder Erstarrung verwandeln. Dieses Reaktionsmuster kennen nicht nur Menschen, die in einer Diktatur aufgewachsen sind. Nichtsdestotrotz trägt eine Diktatur zweifellos das Ihre dazu bei, es zu verstärken und zu verfestigen. Und es endet keineswegs mit dem Ende der Diktatur. Situationen, in denen ich einer Über-Macht ausgeliefert bin, mich bevormundet fühle, eine Diskussion mit offenem Ende unmöglich ist, weil jemand von vornherein im Recht zu sein meint und am längeren Hebel sitzt, erlebe ich nach wie vor. Darauf reagiere ich mit einem besonderen Sensorium, vielleicht übersensibel. Das strengt manchmal an, bestimmt nicht nur mich. Doch keine Vergangenheit ist restlos vergangen. Und jede Irritation ist auch eine Chance.

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