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Das Schulgefängnis in al-Assads Syrien

Dellair Youssef

© Iñaki Queralt/Flickr

Die Schulen in Syrien ähneln Gefängnissen, ihre Mauern sind hoch und die Fenster vergittert. Die Lehrerinnen und Lehrer schlagen die Schülerinnen und Schüler mit Stöcken unterschiedlichster Größe, Farbe und Form. In den syrischen Schulen gibt es militärische Ausbilder, die Armeeoffizieren gleichen und die Schüler durch Züchtigungen wie beim Militär bestrafen. Mit Beginn des „Entwicklungs- und Modernisierungskurses“ und dem Präsidentschaftsantritt Baschar al-Assads als Nachfolger seines Vaters Hafiz al-Assad, Errichter des Königreichs von Angst und Schrecken, wurden die militärischen Ausbilder durch Lehrer ersetzt. Ihre Bezeichnung änderte sich mehrfach, mal waren es Unterrichtsinspektoren, mal waren es Lehrer für Disziplin. Die meisten von ihnen waren ehemalige Offiziere der Armee oder Freiwillige der Sicherheits- und Geheimdienstbehörden, doch ihre Aufgabe blieb, wie sie war, auch wenn sich der Name änderte.

 

Das, was im Innern dieser Schulen an Gewalt passiert, sowie weitere Faktoren, die mit der gesellschaftlichen Lage, der Art der Schulen und ihrem Verhältnis zum Regime im Zusammenhang stehen, bringen viele Schülerinnen und Schüler aller Stufen dazu, aus den Schulen zu flüchten. In diesem Artikel versuche ich, die Gründe für diesen Zustand darzulegen: aufgrund von persönlichen Erfahrungen und indem ich mich auf einige Texte stütze, in denen die syrische Gesellschaft oder ähnliche Gesellschaften analysiert werden.

Persönliche Erfahrungen in der syrischen Schule

Es sind fast nur Erfahrungen der Gewalt und Misshandlung, die ich in syrischen Schulen gemacht habe, seit dem Beginn der Grundschule bis zum Ende der Sekundarstufe, während der Mittelstufe und für die Dauer von mehr als zwölf Jahren. Es waren mehr, als man zählen kann, doch ich beschränke mich hier auf einige wenige Szenen.1

Die erste Szene ereignete sich im letzten Jahr der Grundschule, also als wir in der sechsten Klasse und im zarten Alter von elf und zwölf Jahren waren, in der Schule Muhi al-Din Bin Arabi im Viertel Ruken al-Din der Hauptstadt Damaskus. Eine der Lehrerinnen schlug die Schüler und Schülerinnen immer wieder wie verrückt. Einmal misshandelte sie einen Schüler unserer Klasse auf besonders grausame Art. Sie schlug ihn mit den Händen und trat ihn mit den Füßen, dann verdrehte sie ihm den Arm auf den Rücken und brachte ihn mit ihrem Knie zu Fall, so dass die Hand des Schülers brach. Er kehrte am nächsten Tag mit verbundener Hand in die Schule zurück und musste sich bei der Lehrerin entschuldigen.

In der achten Klasse bzw. der zweiten Klasse der Mittelstufe begannen die Schüler aus irgendeinem Grund nach dem Unterricht, ihre Schulbücher anzuzünden. Also kam der Schulaufseher aus der Schule heraus und dachte vermutlich, die Schüler würden Angst vor ihm haben und aufhören, die Bücher abzufackeln, denn er war für seine Gewalttätigkeit bekannt und dafür, dass er alle, die ihm in den Weg kamen, mit dem schlug, was er gerade in der Hand hielt. Er kam also durch das Schultor heraus und baute sich in der Mitte des Platzes gegenüber der Tür auf, die aus den Mauern hinausführte. In diesem Moment begann so etwas wie eine Revolution. Die Schüler fingen an, die Bücher auf den Lehrer zu werfen. Die Szene war wie im Film, er in der Mitte und die Bücher gingen von allen Seiten auf ihn nieder. Am nächsten Tag, früh am Morgen, ging er in eine Klasse nach der anderen und rief zwei oder drei Namen der jeweiligen Schüler. Anscheinend hatte ihm einer seiner Spitzel unter den Schülern einige Namen der an der Aktion Beteiligten geliefert. Aus unserer Klasse waren es zwei Schüler. Er begann sie zu schlagen und sie mit Beleidigungen ihrer Mütter zu überschütten. Daneben stand die verängstigte Lehrerin und verbarg ihr Gesicht hinter einem Buch. Mit Schlägen trieb er die beiden Schüler aus der Klasse. Als sie nach kurzer Zeit zurückkehrten, waren sie blutüberströmt. Sie durften sich nicht einmal waschen.

Erfahrungen wie diese brachten uns dazu, die Schule, die Lehrerinnen und Lehrer (oder die meisten von ihnen) zu hassen und nicht am Unterricht teilnehmen zu wollen, der nichts mit einem Bildungsprozess zu tun hatte. Unsere Aufgabe war es, uns das zu merken, was uns vorgesagt wurde, so dass wir die Prüfungen bestehen und die nächste Stufe erreichen würden.

Der Hass und das fehlende Zugehörigkeitsgefühl zu diesem Ort sowie die mangelnde Aussicht auf eine bessere Zukunft trieben viele der Schülerinnen und Schüler – und mich als einen von ihnen – dazu, ständig vor dem Unterricht zu flüchten. Also verabschiedeten uns von unseren Eltern und gingen wir von zu Hause los, um uns danach mit anderen Freunden in der Nähe der Schule zu treffen und von dort zu anderen Orten aufzubrechen.

Ich erinnere mich, dass wir während der Mittelstufe einmal aus der Schule flohen, um schwimmen zu gehen, oft gingen wir Fußball spielen. In der Sekundarstufe, in der ich einige Fachlehrer kaum kannte, da ich mich so oft aus der Schule verdrückte, gingen wir immer zu einem der Freunde, um Filme zu schauen und einmal andere Bücher als die Schulbücher durchzublättern. Oder wir gingen in das berühmte Café al-Kamal im Zentrum von Damaskus, um dort Shisha zu rauchen oder Karten zu spielen.

Das Aussehen der Schulen und ihr Verhältnis zum Regime

Die Schulen sind wie die übrigen Regierungsgebäude konstruiert, mit hässlichem Äußeren und großen Schulhöfen, damit eine enorme Anzahl an Schülern aufgenommen werden kann. Die Fassade dieser riesigen Gebäude ist erdbraun und meistens mit Sprüchen verziert, die den Diktator Hafiz al-Assad rühmen, sowie mit Zitaten von ihm und Zeichnungen, die ihn oder seine Söhne zeigen, Basil al-Assad, der im Jahr 1994 bei einem Verkehrsunfall starb, und Baschar, der die Herrschaft von seinem Vater erbte.

Normalerweise hat eine Schule zwei Tore. Eines verbindet das Gebäude direkt mit der Straße draußen und durch dieses kommen und gehen die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Verwaltungsangestellten. Das andere Tor verbindet das Gebäude mit dem Schulhof, der von dem Gebäude umrandet ist. Dort kommen die Schülerinnen und Schüler zur Morgenversammlung, während der Pausen zwischen den Unterrichtsstunden und zum Sportunterricht zusammen.

Der Hof ist von Mauern umfasst wie in einem Gefängnis. Das Eisentor, über das die Schule mit der Außenwelt verbunden ist, öffnet sich für die Schülerinnen und Schüler nur einmal früh morgens, um sie zu empfangen, und ein weiteres Mal zum Ende des Unterrichts, damit sie die Schule verlassen können.

Das Schulgebäude, normalerweise drei oder vier Stockwerke hoch, ist in Zimmer unterteilt, wobei jeder Klassenraum „Zentrale“ genannt wird. Unübersehbar ist die Parallele zwischen der Schulzentrale und der Parteizentrale, einer der Sektionen der Arabischen Sozialistischen Baath-Partei, die das politische Leben in Syrien seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts bestimmt.

In jeder „Zentrale“ gibt es etwa vierzig bis fünfundfünfzig Schülerinnen und Schüler, immer drei sitzen an einem Tisch. Fast nie spricht die Lehrerin oder der Lehrer einen der Schüler separat an, da sie nicht die Zeit haben, um sich allen Schülerinnen und Schüler einzeln zuzuwenden.

Bei den morgendlichen Versammlungen vor dem Unterricht stellen sich die Schüler geordnet in Zweierreihen auf, Schülerinnen und Schüler einer „Zentrale“ jeweils in einer Reihe. Sie wiederholen die morgendlichen Parolen, die Nationalhymne, die Parteigrüße und Lobpreisungen des Präsidenten, wie den Spruch: „Eine Arabische Nation | mit ewiger Botschaft | Unsere Ziele: Einheit, Freiheit, Sozialismus | Unser Führer für immer, der große Hafiz al-Assad.“ Oder irgendein Lehrer sagt: „Kleiner Genosse, sei bereit, die vereinte arabische Gesellschaft aufzubauen und zu verteidigen.“ Der angesprochene Schüler muss dann seine rechte Hand zu einer Art Hitlergruß heben: Stets bereit.

Es muss wohl nicht erwähnt werden, dass die Schulen nach Geschlechtern unterteilt sind. Nach der gemischten Grundschule gehen die Jungs ab der Mittelstufe bis zum Ende der Schulzeit auf Jungenschulen, während die Mädchen auf Mädchenschulen gehen. Eine Ausnahme bilden nur die Eliteschulen (eine Schule in jeder großen Stadt) sowie einige Privat- und ausländische Schulen, deren monatliche Beiträge nur die sehr Wohlhabenden aufbringen können.

Durch die Form der Schulgebäude, die Art zu unterrichten, die ständige Gewalt und die Sprüche, die die Kinder ab dem Alter von sechs Jahren wiederholen, bis sie diese Schulen mit achtzehn Jahren verlassen, wird Gehirnwäsche mit ihnen betrieben, so dass sie Unterstützer des Baath-Staates werden und den Kreislauf der Gewalt, Autorität und Diktatur am Leben erhalten. Zugleich wird es damit leichter, die Gesellschaft zu kontrollieren, indem die Schulen ständige Angst säen, Angst vor dem Anführer, vor dem Regime des Anführers – und vor seinem Konterfei, das einem an jedem Ort begegnet, als würde er alle ständig überwachen, in bester Nachahmung von George Orwells Roman „1984“.

Der Regisseur Omar Amiralay, dessen Filme wegen der Zensur zum Großteil nicht ausgestrahlt werden durften, umreißt in seinem Film „Eine Flut im Baath-Land“ von 2003 die Lage Syriens. Dabei verdeutlicht er die Herrschaft des Baath-Regimes über alle Einzelheiten der Gesellschaft durch das Kontrollieren der Schulen, mit Hafiz al-Assad an der Spitze und danach mit seinem Sohn Baschar. Amiralay hat es geschafft, einen Blick auf die Gesellschaft zu werfen, indem er eine Schule in einem entlegenen Dorf wie durchs Mikroskop präsentierte.

Die gesellschaftliche Situation in Syrien und ihre Beziehung zur „Flucht“

In seinem Buch „Rückständige Gesellschaft: Einführung in die Psychologie des unterdrückten Menschen“ untersucht Mustafa Hijazi das Gefüge rückständiger Gesellschaften. In seinem Versuch, die Gewalt zu verstehen, die er als „Laster der Gesellschaft“ beschreibt, erklärt er Folgendes: „Die Autorität kennt keine anderen Umgangsformen als Terror und Unterdrückung, als grenzenlose Unterwerfung, oder aber sie bedient sich der Täuschung. Die Reaktionen der Autorität sind gewaltsam und direkt und nehmen einen physischen Charakter an. Das Gesellschaftsgefüge, das dieser Zustand hervorbringt, ist starr, ohne jegliches Sicherheitsventil oder Technik für die Aggression, die sich unweigerlich anstaut.“ Und er fügt hinzu: „Die Beziehung des Zwangs mit dem, was er an Repression, Terror und Täuschung mit sich bringt, führt zu einem besonderen Zustand der Rückständigkeit, der Gewalt in unterschiedlichsten Ausprägungen hervorbringt.“

Die Beziehung zwischen Gewalt und Zwang, die sich immer wieder in allen Schichten der syrischen Gesellschaft reproduziert, führt bei den Individuen zu einem ständigen Gefühl der Unterdrückung, was Hijazi als „relationale psychologische Dimension der Aggression“ definiert. „Und dies wirkt in zwei Richtungen: Entweder die Aggression auf andere loslassen und diese besiegen oder zum Opfer ihrer Aggression und Intrigen werden.“

Dies erklärt das Verhältnis der Gewalt, die auf syrische Kinder zu Hause, in der Schule und in allen anderen Kreisen der Gesellschaft ausgeübt wird, zur Flucht, die für Syrerinnen und Syrer oft das Mittel der Wahl ist – und die viele auch bewältigen. Seit der Geburt und jedenfalls der frühen Kindheit fliehen die Kinder von zu Hause, aus Angst vor der Gewalt seitens ihrer Eltern. Und dann, während der Schuljahre, flüchten die Schülerinnen und Schüler vor der Gewalt der Lehrer und der Unterdrückung durch sie. Anschließend flüchten die Männer vor dem Wehrdienst, aus Angst vor der Gewalttätigkeit der verantwortlichen Offiziere, während die Frauen vor familiärer Gewalt durch ihre Ehemänner fliehen, so wie die Beamtinnen und Beamten vor der Unterdrückung durch ihre Chefs flüchten, und schlussendlich fliehen alle vor den Sicherheitsbeamten, die sich wiederum vor den ranghöchsten Offizieren fürchten. So geht es weiter bis zur Spitze der Pyramide der Macht, wie der Autor und Wissenschaftler Jad al-Karim al-Jbaee in seinem Werk „Grenzenlose Modernität in der Freiheit des Einzelnen“ bemerkt: „In unserem Land ist der Mensch immer noch entweder Hammer oder Amboss.“

Diese hauptsächlich auf Gewalt und Angst basierenden Abhängigkeitsbeziehungen, an deren Aufrechterhaltung das Bildungssystem mit seinen Schulen, Universitäten und Instituten arbeitet, reproduziert die Gewalt kreisförmig, so dass derjenige, dem Gewalt angetan wurde, zum Gewalttäter wird. Diese Beziehung erläutert Mamdouh Adwan in seinem bekannten Buch „Entmenschlichung des Menschen“ folgendermaßen: „Gesellschaften der Repression sind Unterdrücker und Unterdrückte, sie lassen in jedem ihrer Individuen einen Diktator entstehen. Deswegen ist jeder Einzelne in ihr, auch wenn er noch so sehr die Unterdrückung beklagt, im Vorfeld bereit, eben jene Unterdrückung selbst auszuüben, über die er sich beschwert, und vielleicht sogar noch gewalttätiger zu jedem sein, der unter seine Kontrolle gerät.“

 

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*Erschienen im Syria Untold am 26. November. 2021

Quellen:
1 Diese und andere Geschichten wurden bereits in einem Post erwähnt, den ich auf der Plattform Raseef 22 im Jahr 2017 unter dem Titel „Kurze Anekdoten aus den Schulen in al-Assads Syrien“ veröffentlicht habe.
2 „1984“ (Roman) vom englischen Autor George Orwell.
3 „Flut im Baath-Land“ (Film) vom syrischen Regisseur Omar Amiralay.
4 „Rückständige Gesellschaft: Einführung in die Psychologie des unterdrückten Menschen“ (Buch) von Dr. Mustafa Hijazi, Seite 195-196.
5 Ebd. Seite 236.
6 „Grenzenlose Modernität in der Freiheit des Einzelnen“ (Buch) von Jad al-Karim al-Jbaee, Seite 79.
7 „Entmenschlichung des Menschen“ (Buch) von Mamdouh Adwan, Seite 173.

Dellair Youssef ist ein syrischer Regisseur, Journalist und Autor. Er drehte Dokumentarfilme wie zum Beispiel „Prinzen der Bienen“, „Waschschnur“, „Exil“ und „Baniyas Die Anfänge“. Er veröffentlichte ein Buch unter dem Titel „Geschichten aus dieser Zeit“. Dieses Buch erschien 2014 in Beirut. Seine Artikel, Aufsätze und Reportagen werden auf verschiedenen deutschen und arabischen Webseiten sowie in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Er wohnt zurzeit in Berlin.

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