Rosen für den Präsidenten
Nagham Hayder
Mein Sohn nahm meine Hand, als wir den Flur entlang und die Treppen hinaufgingen. Zusammen mit anderen Eltern erkundeten wir die weitläufigen Räume. Eine Erzieherin begann uns alles zu erklären, was mit diesem Gebäude zusammenhing. Die Klassenräume und Aktivitäten. Die Schulzeit, die Sporthalle und die verschiedenen Klettergerüste. Mein Sohn war aufgeregt und stellte viele Fragen. Die Erzieherin beantwortete sie alle ausführlich und geduldig. Insgeheim wünschte ich, an mich würde keine Frage gerichtet werden. Ich blieb still, um vergessen zu machen, dass ich da war. Ich bewegte mich argwöhnisch in der Menge. Als wir zur Aula kamen, blieb die Gruppe stehen, um ein wenig über Schulangelegenheiten zu sprechen. Ich jedoch hielt mich abseits und bewegte mich durch die Gänge einer anderen Schule. Dunkel, düster und ummauert. In ihr ließ ich vor vielen Jahren ein kleines Mädchen mit glänzenden Schuhen und goldenem Haar zurück, das voller Anmut dem Präsidenten einen Strauß bunter Rosen überreicht.
Damaskus 1995
Egal, in welcher Haltung ich von Klassenraum zu Klassenraum gehe, ich sehe es: Das Mädchen auf der Wand, detailreich und in prächtigen Farben gemalt.
Ich nähere mich ihr. Ich winke ihr zu und berühre die Wand, auf der sie entstand. Ich bitte sie, mir von ihrem Stolz in jenem strahlenden Moment zu erzählen: Der Präsident beugt sich zu ihr hinunter und lächelt sie an, seine Hand streckt sich nach dem Blumenstrauß aus, den sie ihm liebevoll entgegenstreckt.
Dieser makellose Strauß war der Punkt, an dem wir uns trafen und zugleich trennten. Die Zeichnung rief bei uns Kindern viele Diskussionen, Interesse und Neugier hervor. Vor jenem glücklichen Mädchen fühlte ich, dass wir unwichtig waren. Klein. Und farblos. Wenn wir ihr Gesicht mit unseren Händen berührten, eilte die Putzfrau heran, beseitigte unsere Spuren und wischte mit einem feuchten Tuch auf den Fingern des vorgebeugten Präsidenten und seinem schwarzen Anzug herum. Wenn die Wand mit der Zeit etwas zerkratzt aussah, kam der Maler mit einem Pinsel und erneuerte die Farbe bis in alle Löcher, füllte die weißen Leerstellen. Währenddessen blieben wir mit unseren tiefen Löchern zurück, die wir mit unseren kleinen Händen zu verstecken suchten und doch nicht vermochten.
Ich nahm es dem Mädchen übel, dass es nicht zu Gehorsam gezwungen wurde …
Ich habe keine Einzelheit jener Zeichnung vergessen, obwohl seitdem viele Jahre vergangen sind. Jedes Mal, wenn mein Sohn mich bittet, ihm beim Zeichnen zu helfen, versuche ich, meine Erinnerung daran zu schärfen. Doch ich kann ihr nichts entnehmen, als die Kunst des Diktators und die Farben der Werbung und Plakate. Ich habe bald entdeckt, dass ich nicht fähig bin, eine Szene aus meiner Erinnerung zu zeichnen. Das Einzige, das ich vermag, ist, das Bild oder die Form von etwas direkt vor mir zu übertragen. Die Diktatur hatte die Linien verkürzt, damit sie nichts als sein Gesicht, die Adern seiner Hände und seine gebügelten Anzüge zeigten. Farbe hieß nur noch, ein Teil seiner Existenz zu werden. Alles, was an Farbe bei uns ankam, ging erst durch den Diktator hindurch. In jenen Jahren der Kindheit, in denen sich der Geschmack und der Sinn für die Dinge herausbilden, umgab mich nichts als die dunklen Gänge der Schule, die Enden verstellt. Und auf den umliegenden Wänden Zeichnungen des Diktators, die uns zuwinkten …
…..
Unser Rundgang durch die neue Schule war zu Ende. Ich sagte meinem Sohn, dass ich von nun an nach dem Unterricht draußen auf ihn warten und das Gebäude nicht mehr betreten würde. Alle Schulen ähneln einander. Ich unterscheide nicht mehr zwischen freien Fluren und düsteren Gewölben. Zwischen Gärten mit gestutztem Gras und Mauern aus Beton. Ich glaube nicht, dass der Diktator etwas über uns weiß, über uns kleine Grundschüler*innen. Wir sind nichts als Opfergaben. Oder bunte Rosen, die ihm das anmutige Mädchen auf der Wand in einem prächtigen Strauß anbot.
Nagham Hayder, geboren 1987 in Damaskus, ist Schriftstellerin und Zahnärztin und lebt in Deutschland. Sie hat bisher zwei Romane veröffentlicht, beide in arabischer Sprache: „Bitterkeit“ erschien im Verlag Dar Al-Adab, herausgegeben vom Schriftstellerkreis um Najwa Barakat, 2013, „Winterfeste“ kam 2018 im Verlag Hachette Antoine heraus. Beide Verlage haben ihren Sitz in Beirut.